Über kinky Sex, BDSM und was das überhaupt mit Weltfrieden zutun haben soll?!
Hausärztin und Therapeutin Stephanie Kossow über feministische Sexualmedizin, queere Paartherapie und BDSM
Hallo Stephanie,
Anfang nächsten Jahres wird Dein erstes Buch, Das gute an (schl)echtem Sex, bei uns im divana Verlag erscheinen. Du behandelst die Verschränkung von Sexualmedizin und Paartherapie; ein queer- und kinkfreundlicher Blick auf Menschen und ihre (sexuellen) Beziehungen ist Dir wichtig. Daher erst mal eine etwas allgemeinere Frage:
Was bedeutet ‘Beziehung’ für dich?
Beziehung ist für mich ein weit gefasster Begriff, der mit dem Bezug von Menschen zueinander zu tun hat. Das können Geschäftsbeziehungen, freundschaftliche, familiäre, romantische, finanzielle oder sonstige Beziehungen sein, die Komposition ist sehr verschieden. Wichtig erscheint mir, dass die Natur der jeweiligen Beziehung für alle Beteiligten transparent und nach Bedarf reflektier- und anpassbar ist. Eine Beziehung beginnt auch schon mit einer einseitigen Idee von dem, wie oder was jemand sein könnte. Das sehen wir zum Beispiel bei Schwangerschaften oder im Online-Dating oder bei Bewerbungen. Dazu braucht es noch nicht einmal einen persönlichen Kontakt.
Warum ist es deiner Meinung nach wichtig, über sexuelle Gesundheit und Beziehungen offen zu sprechen und wie kann dies zur Verbesserung der Gesellschaft beitragen?
Menschen sind Beziehungswesen. Eigentlich müsste es ein Schulfach “gesunde Beziehungen” geben, wir müssten Beziehungen in allen Einrichtungen priorisieren, um sichere Umgebungen für alle zu schaffen. Wenn wir alle im Umgang mit Emotionen, Grenzen und Konflikten souverän(er) wären, wären wir sowohl auf individueller Ebene gesünder, als auch auf gesellschaftlicher Ebene bewusster über die Folgen unserer Handlungen. Sexualität spielt hier eine besondere Rolle, da hier Kommunikation nicht nur verbal, sondern auch nonverbal geschieht und diese Beziehungen oft bedeutsam für uns sind.
Welche Herausforderungen siehst du in der aktuellen medizinischen Praxis im Umgang mit sexuellen Themen und wie können diese überwunden werden?
Im Moment ist die Sexualmedizin zum Beispiel schon im Medizinstudium kaum repräsentiert, Health-Care-Professionals sind nicht gut ausgebildet, es gibt wenig strukturierte Weiterbildung dazu, auch nicht für Psychotherapeut*innen und das Thema ist sogar für Ärzt*innen eher tabuisiert. Das heißt, wir Ärzt*innen und Therapeut*innen wissen oft zu wenig über sexuelle Themen bzw. Schwierigkeiten unserer Therapien bzw. Patient*innen. In der Folge leidet dann auch die Versorgung. Als Beispiel: Vor jeder Neueinstellung auf ein Medikament, vor jedem Eingriff, vor jeder Operation müsste über mögliche sexuelle Nebenwirkungen oder Komplikationen aufgeklärt werden, damit die Person eine informierte, selbstbestimmte Entscheidung treffen kann. Das passiert erfahrungsgemäß nicht. Ein anderes Beispiel ist, dass die Klitoris mit ihrer Gefäß-Nerven-Versorgung erst seit 2022 korrekt (oder mutmaßlich korrekt?) in einem der wichtigsten Anatomie-Lehrbücher abgebildet ist; wie sollen Chirurg*innen gut operieren, wenn nicht mal die Basis-Anatomie bekannt ist?
Was hat dich dazu inspiriert, dich auf das Gebiet der feministischen Sexualmedizin zu spezialisieren?
Ich würde sagen, dass das eine Mischung aus meinen beruflichen Interessen und meinen persönlichen Erfahrungen war und ist. Sexualität ist für viele Menschen wichtig, gesundheitsrelevant und die Sexualmedizin als Arbeitsbereich sehr vielfältig. Meine Erfahrungen als cis-Frau in unserer patriarchal geprägten Gesellschaft sowie meine persönlichen Beziehungen und meine Mutterschaft haben den feministischen Blick dafür sicherlich geschärft.
Inwiefern unterscheidet sich deine feministische Perspektive auf Paar- und Sexualtherapie von traditionellen Ansätzen?
Im Grunde versuche ich, neben den grundsätzlichen paar-/sexualtherapeutischen Grundsätzen (das Paar/die Beziehung ist der “Patient”; Das Paar ist Experte für die eigene Situation, Allparteilichkeit, etc.) auch die besonderen Herausforderungen der patriarchalen Gesellschaftsstruktur auf unsere Beziehungen, sogar auf unsere Körper, mitzudenken, zu reflektieren und den Paaren neue Perspektiven zur Verfügung zu stellen. Das bedeutet, in der Praxis zu schauen, wo wir Spuren der patriarchalen Sozialisation finden und ob es nicht andere, kreative Möglichkeiten gibt, mit sexuellen Schwierigkeiten umzugehen. Natürlich finden hier auch Themen wie sexualisierte/häusliche/finanzielle Gewalt, Traumatisierungen oder Familienstrukturen und Care-Arbeit ihren Platz. Oft geht es auch erstmal um das Benennen struktureller Probleme und das Sensibilisieren dafür. Denn Therapie findet ja nicht im luftleeren Raum, sondern auch im Rahmen einer Gesellschaft statt.
Wie beeinflusst deine Erfahrung als Fachärztin für Allgemeinmedizin deine Herangehensweise an die Paar- und Sexualtherapie?
Als klassische Hausärztin ist mir die Prävention von Erkrankungen und eine gute gesundheitliche Bildung sehr wichtig. In Bezug auf die Paar- und Sexualtherapie spielt natürlich daher für mich Bindung und Berührung eine große Rolle, da gute Beziehungen und gute Berührungen für uns Menschen lebensverlängernd und krankheitsvorbeugend wirken.
Welche Rolle spielt deiner Meinung nach die Geschlechtergerechtigkeit in der sexuellen Gesundheit von Individuen und Paaren?
Zunächst spielt ja vor allem (noch) das Geschlecht eine große Rolle in den sexuellen Erfahrungen und der sexuellen Bildung der Menschen. Geschlechtergerechtigkeit wird oft noch zu wenig mitgedacht, beforscht und fokussiert, daher empfinde ich die Rolle der Geschlechtergerechtigkeit noch unterspielt. Außerdem braucht es ausreichend Wissen, zum Beispiel über die normale, sexuelle Reaktion des Körpers, über die normalen Vorgänge im Körper, und zwar von allen Beteiligten.
Welche ungewöhnlichen oder tabuisierten Themen im Bereich der Sexualmedizin sollten deiner Meinung nach mehr Aufmerksamkeit erhalten und warum?
Innerhalb der Sexualmedizin und Sexualtherapie gehört der Umgang mit (sehr häufig vorhandenen!) sexuellen Traumatisierungen für mich noch zu den unterrepräsentierten Themen, ebenso natürlich der nicht-pathologisierende Umgang mit Kink und BDSM durch medizinisches Personal. Auch bei genderspezifischen Themen, wie dem gender orgasm gap, gibt es in meiner Wahrnehmung noch Luft nach oben. Forschungslücken existieren auch in Bezug auf nicht-cis-männliche Körper (wie ist die Physiologie, im Sinne von: wie funktionieren diese Körper? Wie wirken Medikamente bei Personen mit Zyklus? Wie sehen Krankheiten bei Menschen mit Zyklus aus im Vergleich zu Menschen ohne?) sowie im Bereich von Verhütung als Männerthema und gemeinsame Verantwortung.
Wie können Menschen mit chronischen Erkrankungen oder Behinderungen von einer feministischen Perspektive in der Paar- und Sexualtherapie profitieren?
Die feministische Perspektive beinhaltet ja neben dem gesellschaftlichen Blick auch einen nicht-direktiven, egalitären, individuellen Blick auf Menschen. Das hilft dabei, Sexualität nicht als Leistungssport, Druckmittel oder Machtinstrument zu begreifen, sondern darauf zu fokussieren, wie es sich für die Beteiligten anfühlt; was gerade mit der aktuellen körperlichen Befindlichkeit gewünscht und möglich ist; das ermöglicht auch, Sexualität wieder mehr als Ressource und als Körperkommunikation zu empfinden. Kurz gesagt, wir können aus feministischer Sicht aufhören, Sex als Domäne der “Schönen, Jungen, Gesunden, Reichen, Männlichen (temporarily able-bodied…)” Personen zu sehen, sondern uns als Menschen eine selbstbestimmte, lustvolle Sexualität erobern. Auch Studien zeigen, dass die sexuelle Funktionsfähigkeit für “great sex” nicht nötig ist, aber allein natürlich auch nicht ausreicht.
Welche konkreten Ratschläge oder Übungen bietest du in deinem Buch an, um Paaren dabei zu helfen, eine gesunde und erfüllende sexuelle Beziehung aufzubauen?
In meinem Buch wird es einige Übungen zu Kommunikation in Partner*innenschaften und zur sexuellen Selbsterfahrung geben. Ebenfalls stelle ich Informationen zur Sexualität und zu Konsensverhandlungen zur Verfügung, die ich selbst gern früher gewusst hätte und gebe Hinweise, ab wann es sich lohnt, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Außerdem stellen Expertinnen verschiedener Verfahren ihre Methode vor, sodass Lesende einschätzen können, welche Hilfe für sie passen könnte.
Was hoffst du, dass Leserinnen und Leser aus deinem Buch mitnehmen und wie möchtest du ihr Verständnis von Sexualität und Beziehungen erweitern?
Ich hoffe, Therapie weiter zu normalisieren, ebenso wie das Sprechen über sexuelle Wünsche und Bedürfnisse. Ich will das Risiko für sexuelle Grenzverletzungen senken und die Gesundheit der Bevölkerung verbessern. Außerdem möchte ich BDSM / Kink als normale Variante sexueller Handlungen unter gewissen Voraussetzungen in der Mitte der Gesellschaft verankern und aus der Perversen-Ecke herausholen.
Was hat BDSM denn nun mit dem Weltfrieden zu tun?
Ganz einfach: In BDSM wird im besten Fall offen, ehrlich, respektvoll über Wünsche, Grenzen, Bedürfnisse, Ressourcen und Beziehungsgestaltung gesprochen, bis ein Konsens über das gemeinsame Vorgehen besteht. Dabei sind alle Parteien gleichwertig, keine*r wird per Machtverhältnis zu einer Handlung gezwungen. Wenn man das auf größere Gruppen, Gesellschaften, Länder oder auf unser Verhältnis zu unserem Planeten übertragen würde, würden viele Grenzverletzungen nicht geschehen. Außerdem gibt es Daten dazu, dass “Kulturen, die die körperliche Mutter-Kind-Bindung nicht stören oder die Sexualität Heranwachsender nicht unterdrücken, weit weniger gewalttätig (sind) – sowohl auf der individuellen als auch der gesellschaftlichen Ebene” (aus dem Buch: “Sex- die wahre Geschichte”)
Das bedeutet in Kurzform, dass wir uns mit guten (sexuellen) Beziehungen friedlicher verhalten. BDSM-Kommunikation kann dabei helfen. Und damit meine ich nicht, dass BDSM-Praktiken dazu nötig oder hinreichend sind.
Welche Mythen über Sex halten sich deiner Erfahrung nach am hartnäckigsten in der Gesellschaft? Wie gehst du in der Therapie damit um?
Ein großer Punkt sind Mythen über weibliche Sexualität: Frauen* hätten eh keine oder wenig Lust, der Orgasmus sei schwer zu erreichen und nach der Menopause sei sowieso alles vorbei. Das ist alles Quatsch. Genauso, dass Männer* immer wollen und können und simpel “zu bedienen” seien. In der Therapie versuche ich, den Paaren einen eher neugierigen, offenen, kreativen Raum anzubieten, um für sich selbst zu prüfen, wie es sich tatsächlich anfühlt, nicht wie es sich “offiziell” anfühlen sollte.
Hast du einen feministischen, sex-positiven Lieblingssong?
Nein :) Ich höre keine Musik..
Eine sexpositive, queere Feministin, die du bewunderst? Was bewunderst du an ihr?
Emilia Roig bzw. ihr Buch “Das Ende der Ehe” war für mich wegweisend. Natürlich kenne ich sie nicht und natürlich ist bewundern ein Wort, in dem eine Idealisierung und Projektionen drin sind, sodass ich vielleicht nicht über die Person Emilia Roig sprechen möchte; gleichzeitig finde ich die Haltung aus dem Buch sehr konsequent, die Ehe als patriarchale Institution abzulehnen und maximal mögliche Freiheit in der Wahl der Beziehungen anzustreben, entlang der eigenen Bedürfnisse, mit ausreichend Sicherheit.
Laura Méritt wohnt und arbeitet in meiner Nachbarschaft, ich war bei einigen ihrer Workshops, beim PorYes, bei Veranstaltungen. Sie ist für mich mit ihrer grundsätzlich wertschätzenden, humorvollen Haltung bei gleichzeitig fundiertem Hintergrund ein großes Vorbild. In einem meiner ersten Workshops bei ihr vor 10 Jahren habe ich mir ein bisschen die Selbstverständlichkeit in der Betrachtung der weiblichen Sexualität abgeguckt.
Was ist Feminismus für dich - in drei Worten?
Nötig, verbindend, zukunftsfähig
Wenn du die Möglichkeit hättest, das deutsche Gesundheitssystem feministischer und queer-freundlicher zu gestalten, was würdest du umsetzen und warum?
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Auf Seiten der Ausbildung des Personals würde ich (intersektionale) feministische und queere Perspektiven als wesentliche Lehrinhalte sehen wollen.
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Auf Seiten der Forschung würde ich die genderspezifische Forschung, auch und vor allem an menstruierenden Personen verpflichtend verankern.
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Auf Seiten der Politik würde ich verbesserte Vergütung von Gesprächen, Beratung und Begleitung für sinnvoll erachten, da (siehe oben) wir Beziehungswesen sind und das relevant fürs Gesundheitssystem sein sollte. Dafür könnte die “technische” Seite und die Vergütung technischer Anwendungen reduziert werden.
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Auf Seiten der Health Care Professionals würde ich a) ganz grundsätzlich für familien- und menschenfreundliche Arbeitsbedingungen plädieren. Und b) braucht es für die Versorgung von FLINTA* mehr Vernetzung und Kooperation innerhalb des Systems. Und c) würde ich mir eigenverantwortliche Weiterbildung und Reflexion über die eigene Arbeit und die eigenen Vorurteile wünschen.
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Auf Seiten der Patient*innen kann ich mir vorstellen, queerfreundliche Orte (wie z.B. bei Queermed) zu schaffen, sich Allies zu suchen, sich nicht entmutigen zu lassen und bei sich zu bleiben. Es ist nicht der Job von Patient*innen, Ärzt*innen aufzuklären oder zu Schulen; gleichzeitig kann vielleicht die eine oder andere von einem freundlichen Hinweis oder Feedback doch profitieren.