Kink in der Psychotherapie - Beitrag von Dr. Stephanie Kossow
Inhaltswarnung: Es wird in diesem Artikel auch um Diskriminierungserfahrungen, Stigmatisierung und sexualisierte Gewalt gehen.
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Scham, Sex und Psychotherapie
Hast du schon mal mit deiner Psychotherapeut*in über deine Sexualität gesprochen? Herzlichen Glückwunsch, dann bist du eine*r der wenigen Mutigen, die das von sich aus tun.
Hat dein*e Therapeut*in das Thema Sexualität schon mal von sich aus angesprochen? Doppelt Glückwunsch, du scheinst eine*n der wenigen gut weitergebildeten Kolleg*innen gewählt zu haben. Noch tabuisierter wird es, wenn es um den Umgang mit ‘abweichenden’ Sexualitäten geht. Reminder: Scham dient ganz grob dazu, soziale Normen zu schützen. Und weil es keine soziale Norm zu ‘Sprechen über Sexualität’ oder ‘Sprechen über Kink’ gibt, schämen wir uns. Als Patient*innen, Klient*innen, Therapeut*innen, Menschen.
Der Mensch als soziales Wesen: Gute Beziehungen sichern unser Überleben
Diese Scham im Therapiekontext ist ein Problem. Denn in der Weiterbildung von Therapeut*innen oder Ärzt*innen spielt das Thema Sexualität eine untergeordnete, wenn nicht sogar komplett vernachlässigte Rolle. Und das, obwohl Sexualität für uns Menschen ein wichtiger Faktor für die Lebensqualität ist und unsere sozialen und sexuellen Beziehungen für unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit ausschlaggebend sind. Gute soziale Beziehungen sind sogar einflussreicher für unser Überleben als andere bekannte Risikofaktoren wie Rauchen, Bluthochdruck oder Bewegungsmangel (Holt-Lunstad, 20).

Paraphilien: Kink, BDSM und Fetisch
Unter dem Schirmbegriff ‘Kink’ möchte ich eine Erlebniswelt beschreiben, die Elemente aus dem BDSM (Bondage & Discipline, Dominance & Submission, Sadism & Masochism) umfasst, den Machtaustausch in Beziehungen oder Fetische beinhalten kann, und in sexuellen oder nicht-sexuellen Beziehungen, Partnerschaften oder Communities gelebt werden kann. Kink kann sich auf der Fantasieebene abbilden oder/und im realen Verhalten. Kink kann eine untergeordnete Rolle spielen oder wichtiger Teil einer (sexuellen) Identität sein. Es gibt nicht ‘die eine’ Art, kinky zu sein. Personen, unabhängig von Gender oder ‘biologischem’ Geschlecht, die kinky Fantasien haben, sich als kinky identifizieren oder kinky Praktiken leben, bezeichne ich hier als Kinkster. Ich lehne mich damit an das sehr zu empfehlende Buch BDSM und Psychotherapie von Gisela Fux Wolf.
Historische Perspektive auf Kink: Normierung und Pathologisierung
Historisch wurden Sadomasochismus, Fetische oder andere Paraphilien als Perversion, also als Abweichung vom Normalen (Frage: Was ist in der Sexualität normal?) betrachtet. Federführend war hier Richard von Krafft-Ebing mit seiner Psychopathia sexualis. Menschen, die kinky Fantasien oder Verhalten zeigen, wurden (und werden noch) daher als krank betrachtet und damit pathologisiert. Damit einher gingen Überlegungen über das Warum oder Woher, wieso also Menschen so sind und “solche perversen Sachen” machen. Diese Konzepte beinhalten beispielsweise die Idee, dass Kinkster in der Kindheit traumatisiert worden sein müssten oder dass mit kinky Verhalten andere psychische Probleme kompensiert werden sollten. Alternativ sei Kink Ausdruck patriarchaler Strukturen und demnach per se antifeministisch.
Keines dieser ätiologischen Konzepte konnte in der Forschung bestätigt werden. Um es ganz klar zu sagen: Der Anteil traumatisierter Menschen ist in beiden Gruppen (Kinkster und nicht- Kinkster) etwa gleich hoch (siehe Fux Wolf).
Kink als (therapeutische) Ressource?
Es gibt keine Hinweise, dass Kinkster höhere Raten an psychischen Erkrankungen haben. Im Gegenteil: Es gibt inzwischen einige Hinweise in der Literatur, dass Kink therapeutisch wirken kann, auch wenn Kink keine Therapie darstellt (Cascalheira, 2021) (Sicherheitshalber hier der Hinweis: Sogenanntes Trauma-Play oder andere Edge-Play Szenarien sind für Profis. Nicht für BDSM-Einsteiger*innen. Hole dir gegebenenfalls Unterstützung!).
Kink: eine normale Variante sexueller Präferenz
Es ist also wesentlich wahrscheinlicher, dass Kink einfach eine normale Variante (sexueller) Präferenz ist. Das spiegelt sich auch in den Zahlen wider, denn in den meisten Studien zu diesem Thema ist die Anzahl der Personen, die in ihren sexuellen Fantasien kinky Inhalte als erregungssteigernd empfinden, im Bereich um und über 50%. Und ungefähr 10-20% der Menschen leben zumindest gelegentlich Praktiken aus dem BDSM-Bereich aus (Williams, 2022). Auch in alten Darstellungen von Sexualität werden regelmäßig Fesselungen oder Flagellationen gezeigt, es gibt Kunstformen, die über Bondage ausgedrückt werden; natürlich findet sich ebenso in aktueller Pornographie ein großes Spektrum an kinky Filmen. Und das Interesse an Kink scheint in den letzten Jahrzehnten zuzunehmen, zumindest wenn man die Daten zu BDSM-Fantasien zwischen den Generationen vergleicht. Bei den Boomern (1946 bis 1964) berichten 12% von BDSM-Fantasien, in der Gen Z (1996/97 bis 2010/11) sind es 56% (Lehmiller, 2024). Diese Daten sollen zur Depathologisierung beitragen.
Minoritätenstress, Stigmatisierung, internalisierte Kinkfeindlichkeit und schlechte Gesundheitsversorgung
Auf der anderen Seite ist bekannt, zum Beispiel aus der LGBTQIA+-Forschung, dass Stigmatisierungen sich negativ auf die Gesundheit der Betroffenen auswirkt. Es steigt zum Beispiel das Risiko für eine depressive Erkrankung oder eine Angststörung an. Stigmatisierung bedeutet kurz gesagt, dass Menschen aufgrund zugeschriebener oder sichtbarer, vermeintlich negativer Eigenschaften diskreditiert und diskriminiert werden (Stichwort Kink-shaming).
Aus diesem Grund suchen sich viele Kinkster (die natürlich auch körperlich oder psychisch erkranken können), erst spät oder gar keine Hilfe bei psychischen Erkrankungen. Sie haben Angst, dass ihr*e Therapeut*in Kink mit Gewalt verwechselt, die Basics nicht kennt oder die Person vorverurteilt. Es ist also wichtig, dass die Gesundheitsversorgung vor allem von stigmatisierten Bevölkerungsgruppen verbessert wird, um zumindest nicht noch durch uninformiertes oder unsensibles ärztliches oder therapeutisches Verhalten den Minoritätenstress der Betroffenen zu erhöhen.
Nicht selten bestehen auch bei den Betroffenen verinnerlichte Vorurteile (analog zum Beispiel zu internalisierter Homo- oder Transfeindlichkeit könnte man von internalisierter Kinkfeindlichkeit sprechen) über die eigene ‘perverse’ Seite. Es braucht eine Menge innere Arbeit, sich mit dieser Seite vertraut zu machen, sie vielleicht sogar willkommen heißen zu können und möglicherweise dann im Sinne eines Coming-outs nach außen zu tragen. Dieser Prozess des inneren und äußeren Outings ist vor allem deshalb schwierig, weil die gesellschaftliche und medizinische Haltung eben stigmatisierend ist.
Konsensverhandlungen und Risikokonzepte als Prävention von sexualisierter Gewalt
Ich stelle folgende Hypothese auf:
Wenn Kink normalisiert, depathologisiert und entstigmatisiert wäre, könnte die Linie, die konsensuellen BDSM von Gewalt trennt, viel deutlicher besprech- und damit sichtbar werden.
Alle, auch nicht-Kinkster könnten von Konsensverhandlungen (z.B. nach dem FRIES-Konzept) und Risikokonzepten (z.B. SSC, RACK, CCCC) profitieren. Gewalt würde nicht mehr unter dem Deckmantel von BDSM akzeptiert werden. Auch würde problematisches Verhalten, was es wie überall auch innerhalb von BDSM gibt, leichter erkannt und unterbunden werden. Jede Community könnte einen effektiven Schutz vor Übergriffen bieten. So könnte Kink sogar eine Art Gewaltschutz oder Friedensvehikel werden (sagt die Idealistin in mir).
Im Übrigen könnten wir dann auch in Porno oder Popkultur (siehe Fifty Shades of Grey) besser erkennen, was da dargestellt wird (stark verkürzt: BDSM oder sexualisierte Gewalt?) und Jugendliche, die gerade lernen, wie Sexualität und Beziehungen funktionieren, könnten besser dabei unterstützt werden, ihre sexuellen Präferenzen in einem sicheren und konsensuellen Rahmen zu erforschen.
Aus diesen Gründen bin ich sehr dafür, ein Basiswissen zu Kink sowohl in der Bevölkerung als auch in Psychotherapie, Medizin und Beratung zu schaffen.
KAP: Kink Aware Professionals arbeiten kink-sensibel, kink-friendly und kink-aware
Wenn du jetzt also eine*n Therapeut*in suchst und dich in irgendeiner Form als kinky identifizierst, könnte es hilfreich sein, jemanden zu finden, die*der kink-sensibel, kink-friendly oder kink-aware arbeitet. Dazu kannst du zum Beispiel Community-Empfehlungen nutzen oder hier nach einer passenden Therapieperson schauen. Ein Begriff, der häufig auch zur Suche genutzt wird, ist KAP - Kink Aware Professional.
Gleichzeitig ist immer die therapeutische Beziehung ein wichtiger Faktor für das Gelingen einer Therapie. Du solltest dich also bei deinem*r zukünftigen Therapeut*in wohlfühlen und dich öffnen können. Nur weil kink-aware drauf steht, muss nicht kink-aware drin sein. Und anders herum. Auch Therapeut*innen ohne Schwerpunkt können mit dem Thema professionell und sensibel umgehen können.
In einem vertrauensvollen Gesprächsraum sollte jede*r die Möglichkeit haben, die eigenen Themen anzusprechen und nicht den oben aufgeführten Vorurteilen und Stigmatisierungen zu begegnen. Das ist vor allem wichtig, weil obwohl ein großer Anteil der konsensuellen BDSM-Beziehungen als gesund und von hohem Vertrauen geprägt ist, es natürlich auch wie in Vanilla-Beziehungen zu Schwierigkeiten, Konflikten oder Gewalt kommen kann. Und hier schließt sich der Kreis zum Anfang dieses Artikels. Denn wenn wir gute Beziehungen führen, die nährend und haltgebend sind, ist das für uns soziale Menschentiere lebensverlängernd und wirkt präventiv. Dieser Zusammenhang gilt auch für therapeutische Beziehungen.
Leitlinien, Sicherheit und Qualitätsstandards in der Psychotherapie
Es ist grundsätzlich nicht deine Aufgabe, deine*n Therapeut*in weiterzubilden. Ich möchte dir trotzdem die Information geben, dass es eine Leitlinie zur therapeutischen Haltung und zum professionellen Umgang mit Kink in der Psychotherapie gibt.
Und zum Schluss möchte ich noch Hinweise zum Thema Qualität und Sicherheit in einer psychotherapeutischen Behandlung geben. Approbierte psychologische und ärztliche Psychotherapeut*innen haben eine langjährige, fundierte Ausbildung und sind zu hohen Qualitätsstandards verpflichtet. Die allermeisten von uns halten diese Qualitäts- und Sicherheitsstandards ein. In manchen Settings kommt es dennoch zu unprofessionellen, (sexuell) grenzverletzenden, manipulativen oder anderweitig schädigenden Situationen. Wenn du den Eindruck hast, dass in deiner Psychotherapie etwas nicht richtig ist, sich komisch anfühlt oder du dich permanent eher schlechter als besser fühlst und das bei deiner Therapieperson nicht ansprechen kannst, kannst du dich an den Ethikverein wenden. Dort bekommst du Beratung und Unterstützung.
“Finding a kink-aware professional is so important, because it`s really hard to be in therapy when you`re hiding your life from your therapist” (Tashlin&Kaldera, 2014)
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Autorin: Dr. Stephanie Kossow
Webseite: https://stephanie-kossow.de/
Bild: Lena Burmann
Illustration: Sarah-Luna Jahn
Quellen:
Cascalheiro, 2021 Curative kink: survivors of early abuse transform trauma through BDSM . Sexual and Relationship Therapy, 2023, Vol. 38, no. 3, 353–383 https://doi.org/10.1080/14681994.2021.1937599
Holt-Lunstad, J., Smith, T. B., & Layton, J. B. (2010). Social relationships and mortality risk: a meta-analytic review. PLoS medicine, 7(7), e1000316. https://doi.org/10.1371/journal.pmed.1000316
Kink Clinical Practice Guidelines Project. (2019). Clinical Practice Guidelines for Working with People with Kink Interests. Retrieved from https://www.kinkguidelines.com
Lehmiller, J. 2024, The State of Dating: How Gen Z is Redefining Sexuality and Relationships.
Tashlin&Kaldera, Mastering Mind- Dominants with Mental Illness and Neurological Dysfunction 2014
Williams, D. J., (2022). Current biopsychosocial science on understanding kink. Current opinion in psychology, 48, 101473. https://doi.org/10.1016/j.copsyc.2022.101473